Verdoppelte Emfpindsamkeit? by Emil Bernhardt

Perspektiven einer Gefühlsästhetik in der Musik von Lars Petter Hagen

Die Kategorie des Gefühls ist in der musikalischen Analyse ein durchaus schwieriger Begriff. In unserem Verhältnis zur Musik – wie bei ästhetischen Erscheinungen überhaupt – spielen Gefühle aber eine recht zentrale Rolle. Dennoch ist die Kategorie des Fühlens unter anderem deshalb analytisch schwer zu behandeln, weil sie der Distanz und der begrifflich mittelbaren Bestimmung widerspricht, welche die analytische Betrachtung erfordert und voraussetzt. Ein Gefühl zu haben ist etwas unmittelbares; entweder empfindet man etwas, oder eben nicht.

In diesem Text möchte ich vorschlagen, dass die zum Teil konzeptuelle Musik des norwegischen Komponisten Lars Petter Hagen eben durch diese Spannung oder Ambivalenz im Bereich der Gefühle sich deuten lässt: Einerseits werden Gefühle, oder wird die Empfindsamkeit, von Hagen als Thema oder Konzept gesetzt und behandelt, andererseits erweist sich seine musikalische Thematisierung von Gefühlen als etwas Unmögliches. Denn, so könnte man fragen, macht es überhaupt Sinn, sich zum Beispiel eine konzeptualisierte Nostalgie vorzustellen?

Um diese Spannung in Hagens Musik genauer nachzuvollziehen, möchte ich zunächst den zentralen Begriff der Distanz entwickeln. Dann folgen einige Beispiele aus zwei wichtigen Stücken – Norske Arkiver und To Zeitblom –, die zudem Anlass dafür geben, den Distanzbegriff noch ein bisschen weiter zu diskutieren, und vielleicht selbst infrage zu stellen.

Distanz

Der Distanz-Begriff hat in der musikalischen Denkweise Hagens eine zentrale Funktion. Man kann ihn sich in drei verschiedenen Formen vorstellen. Erstens können wir, ganz einfach, von einer konkreten Distanz – zeitlich und räumlich – reden: Hagen interessiert sich für historische Themen, unter anderem für die norwegische Geschichte, für die Volkskultur und für alte Musikformen. Zudem gibt es in seinen Partituren Anweisungen sowohl für Off-Stage-Instrumente wie auch für Distanzen in der Instrumenten-Aufstellung. Beim Hören sind mehrere durch die Instrumentation erzeugte Echo-Wirkungen wahrnehmbar. Zweitens, und komplizierter, geht es um eine konzeptuelle Distanz: Die Themen, die Hagen als Ausgangspunkt nimmt – zum Beispiel die norwegische Geschichte, aber auch Gefühle wie Nostalgie oder Melancholie –, werden nicht einfach als Inspirationen verwendet oder – noch weniger – als musikalische Charaktere wiedergegeben. Was komponiert wird ist eher unsere aus einer entsprechenden Begrifflichkeit resultierende (oder konzeptualisierte) Vorstellung von diesen Themen; es handelt sich um eine mehr oder weniger explizierte Thematisierung. Was die Thematisierung der Gefühle betrifft, wäre es möglich, den Begriff der Sentimentalität hinzuzuziehen, weil die übertriebene Empfindsamkeit (oder Sentimentalität) vielleicht eben dadurch entsteht, wenn die Empfindsamkeit durch Begriffe beherrscht wird: Die Übertreibung des Gefühls – durch die es sentimental wird – wird durch seine Beherrschung erzeugt, die die begriffliche Thematisierung ermöglicht.
Die Konzeptualisierung von Gefühlen erweist sich aber als noch komplizierter, weshalb wir – drittens – von einer ästhetischen Distanz reden könnten: Denn wenn es in der Ästhetik (und in der Musik) um sinnliche (und nicht nur begriffliche) Wahrnehmung geht, scheint die oben erwähnte begriffliche Thematisierung auf ein Problem zu stoßen, das sich mit folgender Frage ausdrücken lässt: Wie entscheidet man, ob ein musikalisches Objekt, wie ein Akkord etwa (was im Falle Hagens besonders relevant zu sein scheint), zum Beispiel melankolisch klingt oder wirkt (sinnlich), oder ob er eher auf die Melancholie, als thematisiertes Gefühl, hinweist (begrifflich)? Anders gesagt: Der Akkord könnte entweder als Zeichen funktionieren, oder er könnte eben diese Funktion durchbrechen. Vielleicht wird es durch diese Unterscheidung möglich zu argumentieren, dass die Musik Lars Petter Hagens nicht, oder zumindest nicht eindeutig, sentimental ist.

Die Empfindsamkeit erweist sich also als etwas schwer zu Beherrschendes: Zwar können die Gefühle thematisiert (möglicherweise um den Preis sentimental zu werden) und ein Akkord als Zeichen dieses Gefühls verwendet werden. Das schließt aber keineswegs die Möglichkeit aus, den Akkord als Ausdruck irgendeiner direkten Empfindung, irgendeines direkten Gefühls aufzufassen. Es scheint, als ob die Empfindsamkeit in einer verdoppelten Fassung auftritt: entweder als Konzept, thematisiert – und daher sentimental –, oder als Ergebnis eines direkten Ausdrucks. Wann genau das eine oder das andere der Fall ist, scheint schwer zu entscheiden sein, wenn es überhaupt möglich ist. Wichtig aber erscheint mir, auf diese Zweideutigkeit hinzuweisen.

Zwei Beispiele

Die zwei Stücke Norske arkiver (Norwegische Archive) für Kammerorchester und Elektronik (2005) und To Zeitblom für Hardangerfiddle und Orchester (2011) zeigen auf verschiedene Weisen, wie Hagen einerseits deutlich mit der Distanz spielt, andererseits aber auch wie er versucht, diese zu überbrücken.

Norwegische Archive

Die zentrale Thematik des ersten Stücks ist bereits in seinem Titel angegeben: Es handelt sich nicht nur um die norwegische Geschichte oder Vergangenheit, sondern es geht darum, wie diese Vergangenheit aufbewahrt worden ist (Archiv) beziehungsweise wie sie für uns heute, sozusagen nach der Aufbewahrung im Archiv, erscheint. Das heißt, es wird auch mit dem Archivbegriff selbst gespielt, was sich bereits in dem eher suiten- oder kataloghaften Charakter des fünfsätzigen Stückes wiederspiegelt. Die Sätze haben Titel wie Das Norwegische als Natur, 6 Psalmen, Hörspiel über Melancholie und Trauermärsche. Auffällig sind bereits verbale Besonderheiten dieser Thematisierung (das Norwegische als Natur, Hörspiel über Melancholie) wie auch die Pluralformen; der zweite Satz 6 Psalmen ist gar kein Psalm, sondern weist unter anderem auf die Psalmenform hin.

Das musikalische Material besteht aus typischen Figuren der norwegischen Volksmusik (zum Beispiel offene Quinte, Vorschläge/Ornamente in den Streichern), wie auch aus harmonischen Konfigurationen aus der Naturtonreihe, Elemente die immer wieder in einer leisen, durchsichtigen, zum Teil fast choralhaften Sprache vorgestellt werden. Obwohl diese Elemente deutlich wiedererkennbar sind, hat sie Hagen als klangliche Figurationen in einer distanzierten, fast schematischen Form gestaltet, deren fragmentarischer Charakter der traditionellen Bewegung (melodische Struktur, Phrasierung usw.) dieses Tonmaterials widerspricht. Die musikalischen Züge der Volkskultur werden also konsequent in einen Stil, in unsere Vorstellung von Volksmusik transformiert, eine Transformation die die oben erwähnte konzeptuelle Distanz ausmacht.

Trotzdem besteht immer noch die Frage nach dem Status des Klangs (oder der Akkorde) als sinnlich wahrnehmbare Ereignisse, weil sie nicht ganz und gar in einem konzeptuellen Diskurs aufgehoben beziehungsweise nicht eindeutig als Zeichen aufgefasst werden können. Zwei Punkte, der erste ein genereller, der zweite ein spezieller, sind in diesem Zusammenhang interessant: Erstens scheint die Instrumentation – wie Hagen konkret die Instrumentalklänge zusammenstellt – auf einem Wissen zu beruhen und dieses beim Hörer vorauszusetzen, das dazu dient, eine gewisse Klangvision zu realisieren, ohne expressis verbis thematisiert oder konzeptualisiert zu werden. Dieses Wissen manifestiert sich unmittelbar in speziellen Klangvisionen. Obwohl Hagen zweifelsohne von einem konzeptuellen Ausgangspunkt her arbeitet, ist es trotzdem auffällig, wie äußerst genau und sorgfältig er mit der Instrumentation umgeht: Anspruchsvolle Instrumentaltechniken, vor allem Mehrklänge in den Holzbläsern, werden oft und dabei sehr geschmacksvoll, verwendet; die Art und Weise wie die Akkorde eingeführt und disponiert werden, ist äußerst subtil. Zweitens gibt es im dritten Satz, Hörspiel über Melancholie, einen funktionalen Wechsel. Der Eröffnungsakkord (eine Quinte) ist mit der Spielanweisung »Langsam und melancholisch« versehen. Nach einer Akkordfolge, endet der Satz mit dem Tristan-Akkord, den Hagen mit »Langsam und schmachtend« übergeschrieben hat. Diese letzte Angabe ist natürlich ein Zitat und auch der Akkord weist unter anderem auf das Tristan-Vorspiel hin. Beim ersten Akkord, der doch offen und eher vieldeutig ist, kann dagegen die Spielwanweisung eher traditionell verstanden werden: als Angabe eines erwünschten Charakters.

Zu Zeitblom

Wenn das Stück Norske arkiver als eine Suite von Beispielen, die nacheinander folgen, erscheint, hat das Hardangerfiddle-Konzert To Zeitblom eher eine zweigeteilte Form. Elemente wie vor allem Klang und Sprechen, aber auch die Aussagen des Komponisten und ihre Übersetzungen (was unten näher ausgeführt werden soll) werden fast parallell zugeordnet, zumindest in dem zentralen Gesprächsteil. Themen wie die norwegische Geschichte und die Volksmusik spielen auch in diesem Stück eine Rolle, einerseits noch expliziter – der Solist ist tatsächlich Volksmusiker und spielt eine Hardangerfiddle –, andererseits werden sie mit einem persönlichen Aspekt, der Frage nach der Identität, verbunden.
Ausserdem wird das Problem, das oben mit dem Begriff der ästhetischen Distanz angedeutet wurde, in diesem Falle noch deutlicher künstlerisch gestaltet: In der Partitur gibt es bei der Solistenstimme nur noch eine scordatura-Angabe (was allerdings bei der Hardangerfiddle üblich ist), und was der Solist spielt, ist nicht von Hagen komponiert, sondern wird improvisiert. Den Improvisationen wird dadurch einer Art von Authentizität verliehen, was von dem auf der Bühne anwesenden Komponisten explizit betont wird. Obwohl Hagen deutlich mit der Distanz spielt – das (authentische) Präludieren im Volksmusik-Stil findet innerhalb eines komponierten Kunstmusikstücks statt –, versucht er gleichzeitig, und zwar auf eine persönliche Weise, diese Distanz zu überwinden, indem er sich selbst, auch als live-Moderator auf der Bühne, in das Werk einbezieht.

Nach etwa neun Minuten, nimmt Hagen ein Mikrofon, begrüßt das Publikum und erklärt, auf Englisch, er möchte das Werk und die Hardangerfiddle als norwegisches Volksinstrument genauer vorstellen. Für die Übersetzung wird ihm Wieland Hoban, zur Seite stehen. Hagen betont, wie er bewusst versucht hat, die Tradition von Edvard Grieg weiterzuführen, und die von Hagen sogenannte «Exotismus-Formel» zu benutzen. Dies wird nun von Hoban folgendermaßen »übersetzt«: »Als Ausgangpunkt nahm ich Adornos Begriff der Entkunstung aus seinem Vortrag Das Altern der Neuen Musik aus dem Jahre 1954. Kern der Sache war, dass die Negation an sich im Begriff war, zu einer Geste zu werden« usw. Parallell dazu führt Hagen einige leise Arpeggiofiguren ein, gespielt von einer einsamen Harfe.
Obwohl es sofort, und sehr humorvoll deutlich wird, dass es hier keineswegs um eine Übersetzung geht, ist das Interessante meines Erachtens nicht, wie Hagen noch einmal die Distanz (nun zwischen den Sprachen, den kulturellen Kontexten usw.) ins Spiel bringt – jetzt auf eine lockere Art und Weise. Sondern was vor allem den Reiz ausmacht ist vielmehr, wie Hagen die hier erzeugte Spannung als eine Möglichkeit aufgreift, seine persönliche Beziehung zu dem Stück und zu der Situation zu intensivieren: Hagen nimmt noch einmal das Mikro und erzählt wie er während des Kompositionsprozesses die Heimat des Solisten aufgesucht hat, um von der Umgebung inspiriert zu werden. Er versucht außerdem, sich mit dem Musiker zu identifizieren: »I wanted to be Gjermund [der Spieler]«. Es wäre möglich, das, was in diesem Moment passiert, als eine hochvirtuose rhetorische, und deshalb auch beherrschte Bewegung zu beschreiben: Genau auf dem Punkt wo das Publikum, durch Lachen am meisten entspannt ist, nimmt Hagen die Möglichkeit war, um – und zwar anhand einer (sentimentalen?) Harfenfigur – seine persönliche Sicht auf die Dinge zu vertiefen.

Einerseits sieht man hier, wie der Komponist versucht, die Distanz zu brechen – in einem Moment der eine interessante Ausnahme in der Musik Hagens bildet, vor allem deshalb, weil die Spannung in das Material selbst hineingezogen wird. Andererseits wird aber der konzeptuelle Aspekt und damit die konzeptuelle Distanz durch die ganz explizite Art und Weise, wie diese persönliche Annäherung vor sich geht, noch deutlicher hervorgehoben.

Oberfläche?

Eine solche Spannung, die den oben betonten Distanz-Begriff noch einmal hereinholt, lässt vermuten, dass die Musik von Lars Petter Hagen grundsätzlich von einem dialektischen Impuls bestimmt wird. Wesentliche Züge dieser Musik, und vor allem ihre konkrete akustische Erscheinungsform, sprechen andererseits dagegen. Denn obwohl die Reflexion, die mit der konzeptuellen (und vielleicht auch ästhetischen) Distanz im Spiel gesetzt wird, für diese Musik schon zentral ist, findet sie aber irgendwie außerhalb der Musik als strukturiertes Klangereignis statt. Der oben erwähnte Katalog-Charakter bei dem Stück Norske arkiver konnte dafür als Beispiel dienen, wie diese Musik von einem spezifisch äußerlichen, und vielleicht sogar oberflächlichen Charakter geprägt ist, der aber nicht allzu schnell mit einer Abwertung gleichgesetzt werden sollte. Es handelt sich vielmehr um eine Eigenschaft, die eben den Distanzbegriff selbst infrage stellt.
Denn wenn die Musik selbst, also das, was man tatsächlich hört, überwiegend aus traditionellen Akkorden besteht, Akkorden, die nebeneinander, als wären sie (gefundene) Objekte einer Austellung, präsentiert werden – wie erfährt und verfolgt man dann überhaupt das Distanz-Spiel? Diese Frage ist aber vielleicht falsch gestellt, weil – und dass ist was ich zu zeigen versucht habe – eher das Umgekehrte der Fall ist: Die reflexive Spannung findet meistens, ausgelöst durch die Klangereignisse, erst in der Rezeption statt. Außerdem ist sie von dem geprägt, was man einen Ausstellungs- oder Katalogcharakter nennen könnte, was dazu beiträgt, Hagens Musik als konzeptuell erscheinen zu lassen. Andererseits, wie ich es oben angedeutet habe, kann man aber vielleicht nie wissen, ob ein Akkord beispielsweise melancholisch klingt, oder ob er als Zeichen der Melancholie zu verstehen ist. Darum ist die richtige Frage eher: Ist es nicht sinnvoller, diese Musik als eine Ausstellung von Objekten aufzufassen und dementsprechend zu interpretieren? Die musikalischen Elemente wie Akkorde, Instrumentkombinationen, aber auch Zitate, Stilfiguren und so weiter werden einerseits einfach präsentiert, können aber trotzdem eine fast paradoxe Verdoppelung evozieren: Die Distanz ist zwar zentral, sie wird aber gleichzeitig durch die besondere Gefühlsästhetik mit der hier gespielt wird, herausgefordert.